Gemeinde ohne Kirche, 1909 – 1930

Mit der Industrialisierung Schöneweides zu Beginn des 20. Jahrhunderts wächst die Bevölkerung rasant von 2.393 im Jahr 1901 auf ca. 7.200 im Jahr 1909. Damit wächst  auch die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder. Am 1. April 1908 wird Niederschöneweide aus der Stadtkirchengemeinde Köpenick ausgegliedert, am 1.April 1909 als selbständige Gemeinde anerkannt.  Hilfsprediger Reinhard wird der erste Gemeindepfarrer, Lehrer Neubert ist Organist, der Schuldiener Nittmann zugleich Kirchendiener. Zur Gemeinde gehören Industrielle, Gewerbetreibende, Beamte, Arbeiter. Die ersten Kirchenältesten sind die Herren Milbradt, Schütze, Tillich, von Scheven. 

Schon 1905 gründen Frauen einen Frauenverein, der es sich „zur Aufgabe macht, die christliche Liebestätigkeit zu üben und dabei das geistliche Amt zu unterstützen.“  Der Verein unter Vorsitz des Pfarrers sorgt für die Anstellung einer Gemeindeschwester, Unterstützung bedürftiger Familien, Geselligkeit.

Die Gemeinde verfügt weder über eine Kirche noch Gemeinderäume oder einen eigenen Friedhof.  Gottesdienste finden in der Aula der 1900 neu gebauten Gemeindeschule statt. In der Britzer Straße 17 werden Räume angemietet.  Da die Gemeinde weder einem Patronatsherren untersteht noch Land besitzt, muß sie ihre Arbeit weitgehend aus Kirchensteuermitteln finanzieren. 1908 gehören zur Gemeinde 1150 steuerpflichtige Gemeindeglieder, 1911 sind es ca. 2.200. Die Kirchensteuer beträgt 15% der Einkommensteuer, was für viele Arbeiter und Angestellte ein hoher Betrag ist.

Der  Wunsch nach einer eigenen Kirche läßt sich vorerst nicht verwirklichen. 

Niederschöneweide ist protestantisch. Die Anzahl der Katholiken, der Juden und der „Dissidenten“ ist gering.

Seit 1893 gibt es einen Kindergarten auf dem Gelände der in jüdischem Besitz befindlichen A&A Lehmann´schen Plüschfabrik AG. 1922 zieht der Kindergarten in die Britzer Str. 17 um.

Der Chor existiert seit 1908.

Die Suche nach einem geeigneten Platz für einen Friedhof gestaltet sich schwierig. Bezahlbares Land findet sich schließlich im abgelegenen Altglienicke.  Der Weg zum Friedhof ist weit und nur per Ringbahn, Straßenbahn und zu Fuß zu erreichen.

Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist hoch, auf den ersten Seiten des Kirchenbuches für Beerdigungen sind vor allem Kinder verzeichnet. Im Winter 1919 verdoppelt  sich die Zahl der Beerdigungen. Viele Menschen sterben an Grippe und Lungenentzündung.

„Oberster Bischof“ der evangelischen Kirche ist der Kaiser. Sein Geburtstag wird gefeiert. Aus Anlaß des 500jährigen Bestehens des Hauses Hohenzollern wird eine Spende für die Mission in den Kolonialgebieten abgeführt. Mit Beginn des ersten Weltkrieges verfügt der Kaiser, in den Gottesdiensten für den Schutz des „königlichen Kriegsheeres und die gesamte deutsche Kriegsmacht zu Lande und zu Wasser“ zu beten.  Die Gemeinde folgt dem Aufruf, die Familien von „ins Feld gezogenen Kriegern“ zu unterstützen und Andachten und Gebetsstunden für Soldaten zu halten.  Der Pfarrer ist Vorsitzender der „Kriegskommission“.